Wahlen auf dem Dorf

Bauer Pandurang Didhe aus Kolwan trägt eine weiße Schiffchenmütze – eine Kopfbedeckung, die die Sympathisanten der Aam Aadmi-Partei aufhabenBauer Pandurang Didhe aus Kolwan trägt eine weiße Schiffchenmütze – eine Kopfbedeckung, die die Sympathisanten der Aam Aadmi-Partei aufhaben. Foto: Rainer Hörig. All rights reserved.

Kolwan heißt ein kleiner Ort hoch oben in den Western Ghats-Bergen östlich von Mumbai. Rund einhundert Familien leben hier vom Anbau von Reis, Hirse und Weizen. Kolwan verfügt über eine große Schule und eine kleine Gesundheitsstation. Ein Mobilfunkturm am Ortseingang kündet vom neuen Zeitalter. Aber in vielen Bereichen sind Bräuche und Ansichten seit Jahrhunderten unverändert geblieben. Nichts deutet auf das bevorstehende Mammutereignis Wahlen hin.

Mit einem knappen Lächeln bittet mich der Bauer Pandurang Didhe in sein geräumiges und blitzsauberes Haus. Über seinem stoppelbärtigen, kugelrunden Antlitz thront die hier übliche Kopfbedeckung, die weiße Schiffchenmütze, die auch die Sympathisanten der Aam Aadmi Partei tragen. Pandurang Didhe lebt in einer Großfamilie, insgesamt 17 Personen stark. Zusammen mit seinen beiden Brüdern bewirtschaftet er knapp zwei Hektar Land. Zwar steht vor seiner Haustür kein Auto, aber die Familie gehört zu den Wohlhabenden in Kolwan. Der ältere Bruder bekleidete zehn Jahre lang das Amt des Dorfvorstehers. Pandurang Didhe nimmt aktiv am politischen Leben in Kolwan teil. Die Mehrheitsverhältnisse seien ziemlich klar, erklärt er mit Stolz: "Fast alle Bewohner sind Anhänger der Nationalist Congress Party, der Partei des amtierenden Landwirtschaftsministers Sharad Pawar. Einige wählen auch die Mutterpartei Congress Party, die Hindu-Parteien BJP und Shiv Sena haben jedoch kaum Rückhalt hier."

Ob er von der neuen Aam Aadmi-Partei gehört habe, frage ich nach. "In den Nachrichten habe ich über diese Partei erfahren, aber ich weiß nicht, was die eigentlich will. Sie stellt keinen Kandidaten in unserem Wahlkreis, daher hat sie auch keine Anhänger unter uns."

Ich wundere mich darüber, dass im Ort keine Plakate auf die bevorstehende Wahl hindeuten. "Findet hier kein Wahlkampf statt?", will ich wissen. "Eigentlich spielen die Wahlen zum Nationalparlament hier keine große Rolle", meint Pandurang Didhe. "Die für uns wichtigen Entscheidungen werden nämlich auf lokaler Ebene getroffen: Ob und wo eine neue Straße gebaut wird oder wie hoch die Abnahmepreise für unsere Feldprodukte sind. Die Wahlen zum Dorf- und Bezirksrat werden sehr leidenschaftlich geführt, aber im Falle des Nationalparlaments tauchen erst wenige Tage vor der Wahl einige Plakate auf. Parteiaktivisten besuchen uns manchmal, um uns zum Wahllokal zu begleiten."

In Kolwan sei Wahlkampf sowieso nicht nötig, meint der schlaue Bauer, denn 80 Prozent der Bewohner würden stets für dieselbe Partei stimmen. Sie sind treue Anhänger des Landesfürsten Sharad Pawar, der seit mehr als 30 Jahren die politischen Fäden im Unionsstaat Maharashtra zieht. Seit fünf Jahren amtiert Sharad Pawar auch als Indiens Landwirtschaftsminister. Doch diesmal tritt er nicht zur Wahl an, er lässt sich von seiner Tochter Supriya Sule vertreten. Pandurang Didhe: "Sharad Pawar ist seit dreißig Jahren unser Führer. Er hat diese Gegend hier entwickelt, dafür wir sind ihm dankbar, daher wählen wir seine Partei. Wir Bauern bekommen heute viermal soviel Geld für unser Zuckerrohr, wie vor fünf Jahren. Das haben wir dem Landwirtschaftsminister zu verdanken."

Der westindische Unionsstaat Maharashtra ist einer der wirtschaftlich am weitesten fortgeschrittenen, verfügt über das höchste Pro-Kopf-Einkommen unter allen Flächenstaaten des Riesenlandes. Die Hauptstadt Mumbai, früher Bombay, ist Indiens Finanzzentrum und die Heimat der Bollywood-Filmindustrie. Mumbai und die Schwesterstädte Nasik und Pune profitieren in hohem Maße von der Globalisierung, denn hier finden sich zahlreiche Niederlassungen internationaler Konzerne, unter ihnen die Creme der deutschen Automobilindustrie.

Abseits der Millionenstädte jedoch wird das Leben nach wie vor von der Landwirtschaft geprägt. Der Osten Maharashtras ist in den vergangenen Jahren zu trauriger Berühmtheit gelangt, weil sich dort tausende hochverschuldeter Bauern durch den Konsum von Pestiziden das Leben nahmen. Der Westen ist jedoch vergleichsweise wohlhabend, dank zahlreicher Bewässerungsprojekte, die Flusswasser aus den Western Ghats-Bergen nutzen. Dank künstlicher Bewässerung konnte sich die Region zu einem der wichtigsten Anbaugebiete für Zuckerrohr mausern. Indien ist der weltweit zweitgrößte Produzent des süßen Stoffs. Zuckerrohr ist eine "cash-crop", wird also für den Markt angebaut, nicht zum Selbstverzehr der Bauern. In den vergangenen  Jahren protestierten die Bauern in Maharashtra wiederholt für eine Erhöhung der Abnahmepreise.

Sharad Pawar gründet seine Macht vor allem auf die vielen Zuckerkooperativen, die den Bauern der Region ihre Ernte abnehmen und einen von der Regierung festgesetzten Preis zahlen. Der schlaue, manche sagen skrupellose Politiker bestimmt damit die Einkommen hunderttausender von Bauernfamilien mit. Er selbst verfügt über ausgedehnte Ländereien und hält Beteiligungen an zahlreichen Industrieunternehmen. Sein Vermögen befähigt ihn zum Erfolg in der Politik, seine politischen Ämter ermöglichen ihm die Vermehrung des Vermögens. In den vergangenen Jahren gerieten er und seine Familie wiederholt unter Korruptionsverdacht. Die Unterstützung der Bewohner von Kolwan sichert er sich durch großzügige Geldgeschenke, wie Pandurang Didhe freimütig einräumt: "Mein älterer Bruder war lange unser Dorfchef. Daher weiß ich aus eigener Erfahrung, dass der Dorfvorsteher von Politikern Geld bekommt, damit er seinen Leuten sagt, wen sie wählen sollen. Die junge Generation will jedoch nichts davon wissen. Aber eigentlich ist das auch gar nicht nötig, denn jedermann sieht doch den Fortschritt. Früher gab es hier nichts, jetzt können wir sogar Zuckerrohr anbauen. Es gibt Straßen, Schulen, Hospitäler, alles wegen Sharad Pawar! Wir brauchen den Leuten nicht mehr zu sagen, wen sie wählen sollen."

Am Rande der Stadt Ahmednagar, rund 150 Kilometer östlich von Pune säumen riesengroße Wahlplakate einen staubigen, zwei Fußballfelder großen Platz. Zigtausende Menschen harren in der mittäglichen Sonnenglut aus, vertreiben sich die Zeit mit Schwätzen und Witzen. Plötzlich kommt Unruhe in die Menge. Mit Sirenengeheul fährt eine Autokarawane vor. Leibwächter in grauen Safari-Anzügen, Maschinenpistolen vor der Brust, bilden ein Spalier mitten im Publikum, durch das der Redner die Bühne betritt. Sharad Pawar tritt auf wie ein Bollywood-Star, mit einem breiten Grinsen und erhobenen Armen.

Zwei Mal war er Regierungschef von Maharashtra, bevor ihn seine Laufbahn nach Neu Delhi führte, ins Zentrum der Macht. Als Chef der Nationalist Congress Party hat er jetzt die Pflicht, seine Kandidaten in der Provinz zu unterstützen. Obwohl er sich bei der Ansprache sichtlich Mühe gibt, Emotionen zu wecken, erntet er nur verhaltenen Applaus. Er verspricht, was fast alle Politiker versprechen: Politische Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung und neue Arbeitsplätze, Förderung der sozial Schwachen. Nach einer Stunde ist alles vorüber. Sharad Pawar besteigt einen Helikopter und hastet zum nächsten Auftritt, einem von mehr als zehn an diesem Tag.

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