Müll im GangesIndiens heilige Kloake
Von Rainer Hörig
Beitrag hören
- Die indische Stadt Varanasi in Indien am Ganges. (picture alliance / dpa)
Die
Überreste religiöser Rituale, Abwässer mehrerer Millionenstädte,
hochgiftige Abwässer aus Industriebetrieben, Pestizide und Düngemittel
von den Äckern - all das landet im Ganges. Indiens heiliger Fluss ist
so lebendig wie ein Abwasserkanal, doch das wollen Umweltschützer
ändern.
Wenn in der heiligen Stadt Varanasi in Nordindien die
Sonne über dem Ganges aufgeht, strömen die Pilger zu Tausenden zum
Flussufer, zum heiligen Bad. Heimische und angereiste Hindus steigen die
in Stein gefassten Stufen hinunter. Aus altersschwachen Lautsprechern
tönen fromme Gesänge: Om Nama Shivaya – der Name Shivas lautet Om. Ein
rituelles Bad im Ganges bedeutet für Hindus Erlösung und Seelenfrieden.
Anjani
Kumar Singh etwa, der in einem Dorf an der Grenze zu Nepal ein
Fotostudio betreibt, hat seine gesamten Ersparnisse geopfert, um mehr
als 300 Kilometer weit nach Varanasi reisen zu können:
"Hier
am Ganges herrscht eine besondere Atmosphäre. Wie soll ich das
beschreiben? All die vielen Leute hier wollen diese Magie erfahren,
dafür nehmen sie auch eine lange und beschwerliche Anreise in Kauf."
Nachdem
er einmal ganz untergetaucht ist, steht Singh bis zur Hüfte in der
braunen Brühe , schöpft mit beiden Händen das für ihn so kostbare Nass
und lässt es über die Fingerspitzen in den Fluss zurückträufeln. Mit
geschlossenen Augen murmelt er ein Gebet zur aufgehenden Sonne. Dann
setzt er eine mit Blumen geschmückte Schale ins Wasser, in der eine
Öllampe brennt – Verehrung der Mutter Ganga!
"Ich empfinde
hier eine tiefe Glückseligkeit. Daher hat sich die Reise gelohnt. Alle
kommen hierher, um diese Glückseligkeit zu erleben. Das ist es doch, was
Religion ausmacht. Ich bin zwar ein gläubiger Hindu, aber für mich sind
im Grunde alle Religionen ein und dieselbe."
Obwohl die
Menschen ihren Fluss Ganges verehren, ruinieren sie ihn gleichzeitig
durch Staudämme und giftige Abwässer. In Varanasi erreicht die
Wasserqualität einen Tiefstand. Nicht weit von den Badestellen werden
die ungereinigten Abwässer von eineinhalb Millionen Menschen
eingeleitet. Die Präsenz von Coliform-Bakterien im Wasser übertrifft
hier den Grenzwert für die Badequalität um das dreitausendfache.
Die Verunreinigung ist für Pilger kein Thema
Doch
für die meisten Pilger ist der Schmutz kein Thema. Sie glauben fest
daran, dass das heilige Bad sie innerlich reinigt, von allen Sünden
befreit. Kiran Kumar, eine Hausfrau in den besten Jahren aus der unteren
Mittelschicht, ist gemeinsam mit ihrem Mann aus dem Nachbarstaat Bihar
angereist. Sie schüttelt energisch den Kopf, mit einer weiten
Handbewegung wischt sie alle Bedenken beiseite:
"Nein, das
Wasser des Ganges ist nicht schmutzig. Wenn die Leute ein bisschen
aufpassen, kann nichts passieren. Im Gegensatz zu normalem Wasser kann
man Gangeswasser jahrelang in einer Flasche aufbewahren, es wird nicht
schlecht und riecht nicht. Es muss also etwas Besonderes sein!"
Schwimmende Kerzen im Ganges, Varanasi, Indien. (imago/Mint Images)
Mit
der Eisenbahn erreicht man nach ganztägiger Fahrt Richtung Westen die
Megacity Neu Delhi. Der Zug durchquert die halbe Gangesebene von
Varanasi im Zentrum bis an den westlichen Rand zur Yamuna, dem
wichtigsten Nebenfluss des Ganges. Nach Angaben der Vereinten Nationen
gehört die indische Hauptstadt, eine der größten Städte der Welt, zu den
am stärksten verschmutzten Metropolen überhaupt. In punkto
Feinstaubbelastung der Luft übertrifft Neu Delhi bisweilen sogar Peking.
Delhis Stadtfluss ist eine Kloake
Der
Yamuna-Fluss, der die Stadt von Nord nach Süd durchquert, ist eine
Kloake. Stromausfälle und Verkehrschaos sind Alltag. In der Dachwohnung
eines Mittelklasse-Wohnviertels im Norden Delhis hat Himanshu Thakkar
sein Büro eingerichtet. Mit einer kleinen Gruppe von Freiwilligen
betreibt er einen Internet-Blog und eine Monatszeitschrift zu
ökologischen Fragen des Wassermanagements.
"Die Schmutzlast im
Ganges besteht zu 80 Prozent aus städtischen und häuslichen Abwässern.
Im Tal des Ganges gibt es mehrere Millionenstädte. Dazu kommen
hochgiftige Abwässer aus Industriebetrieben. Von unseren Äckern fließen
immer mehr Pestizide und Düngemittel in die Flüsse. Dann noch die
Überreste religiöser Rituale und von Leichenverbrennungen. In alten
Zeiten war das für den Fluss nicht sehr schädlich, aber seitdem wir neue
Materialien benutzen und das in immer größerem Ausmaß, kann der Fluss
nicht mehr mithalten."
In den vergangenen zwei, drei
Jahrzehnten habe in der Geo-Wissenschaft ein Umdenken stattgefunden,
erklärt Thakkar hinter einem mit Papieren überladenen Schreibtisch.
Schrittweise habe man den enormen Wert der Flüsse für den Erhalt des
Gleichgewichts in der Natur erkannt.
"Die Verschmutzung ist
leider nicht das einzige Problem. Schauen Sie, Ganga ist lebendig, sie
bewegt sich über große Distanzen in Zeit und Raum. Durch ihre Zuflüsse
wird sie mit Mineralien und Lebewesen aus anderen Regionen befruchtet.
Die Ganga nährt viele Formen aquatischen Lebens, Pflanzen und Tiere. Sie
transportiert Sedimente aus dem hohen Himalaya bis zum Meer. Diese
Tatsachen finden jedoch leider bei unserer Bürokratie und in der Politik
keine Berücksichtigung. In deren Verständnis ist der Fluss nur ein
Wasserlieferant."
Niemand kenne den Zustand des Flusses
besser als sein Freund Manoj Mishra, meint Himanshu Thakkar und kritzelt
eine Adresse auf ein Stück Papier. Gemeinsam mit Helfern erkundet
Mishra den Fluss, streitet mit Politikern und Richtern, wirbt bei der
Landbevölkerung für den Bau von Toiletten und eine chemiefreie
Landwirtschaft.
Besucher führt er gerne zum Wehr von Wazirabad, wo
die Yamuna in die Stadt fließt. Direkt am Ufer breitet sich dort ein
Meer aus buntem Plastikmüll aus, ein faulig-süßer Geruch liegt in der
Luft.
"Der Fluss ist tot."
Manoj Mishra zieht die
Augenbrauen in die Höhe und zeigt auf eine Bachmündung am
gegenüberliegende Ufer, aus der eine dickflüssige, schwarzbraune
Flüssigkeit in den Fluss sickert - die ungeklärten Abwässer der
nördlichen Stadtbezirke.
"Eigentlich gibt es in Delhi keinen
Fluss. Was wir hier sehen, ist ein Abwasserkanal ... Dieses Wasser
enthält keinen Sauerstoff, es gibt kein Leben darin. Früher lebten jede
Menge Fische im Fluss, sogar Krokodile gab es. Jetzt schwimmt hier nur
Müll. Der sogenannte Fluss besteht aus Abwässern von Haushalten und
giftigen Industrieabfällen. Die Wäscher und Fischer, die einst vom Fluss
lebten, sind verschwunden. Der Fluss ist tot."
Auf die Frage nach den Ursachen für die Misere der Yamuna in Delhi gibt er eine verblüffend simple Antwort:
"Ungefähr
200 km flussaufwärts, nahe der Stadt Yamunanagar, blockiert ein
Staudamm den Flusslauf. Dort wird während der Trockenzeit das gesamte
Wasser des Flusses in Kanäle abgeleitet, für die Feldbewässerung und zur
Versorgung der Städte. Das bedeutet, dass das Flussbett flussabwärts
des Dammes neun Monate im Jahr trocken bleibt. Erst in Delhi füllt es
sich wieder ein wenig - mit Abwasser."
Gläubige während des hinduistischen Festes Kumbha (Kumbh) Mela. (imago/GranAngular)
Eine
kleine Gruppe älterer Damen nähert sich dem Flussufer mit
Blumengebinden, Kokosnüssen und mit allerlei Glitzerschmuck. Am
Wasserrand angekommen, legen sie ihre Opfergaben nieder, entzünden ein
paar Räucherstäbchen und falten, dem Wasser zugewandt die Hände zum
Gebet. Mit der hohlen Hand schöpfen sie heiliges Wasser aus dem Fluss
und trinken es, bevor sie sich auf den Heimweg machen. Zurück bleibt ein
Haufen Abfall, der irgendwann vom Fluss fortgetragen wird.
Manoj
schüttelt den Kopf und deutet auf die bunten Plastikteile und verwelkten
Blumen, die hier das Flussufer säumen. Kein schöner Anblick,
kommentiert er sarkastisch, aber harmlos im Vergleich zu den giftigen
Abwässern, die die Industrie rund um die Uhr ablässt. Vom anderen Ufer
weht der Wind eine Wolke fauligen Gestanks herüber.
"Das
Wasser, das wir hier in Delhi verbrauchen, stammt aus der Yamuna, aber
nicht von hier. Es fließt von besagtem Staudamm 200 Kilometer weit durch
einen Kanal zu uns. Ein weiterer Kanal bringt Wasser vom Tehri-Damm am
Ganges, hoch oben im Himalaya gelegen, und ein dritter versorgt die
Stadt aus dem Bhakra-Nangal-Stausee am Fluss Sutlej. Delhi bekommt also
aus drei Flüssen Wasser - und scheidet etwa 80 Prozent davon als
stinkende Brühe wieder aus."
Kämpfen für die Rettung des Ganges
Neu-Delhi.
Hier wird demnächst über das Schicksal des Ganges und seiner
Nebenflüsse entschieden. Der heilige Fluss steht dabei für alle anderen
Flüsse Indiens, die in ähnlich desolatem Zustand sind. Für
Umweltschützer wie Sunita Narain ein Dauerthema. Die zierliche
Mitfünfzigerin ist eine Ikone der indischen Grünen. Sie leitet Indiens
größte und bedeutendste unabhängige Umweltschutzinitiative, das "Centre
for Science and Environment" und gibt das Magazin "Down To Earth"
heraus.
Sunita Narain war früher auch Mitglied im Beratergremium
der Zentralregierung für die Sanierung des Ganges, doch die neue
Regierung verzichtet jetzt auf ihre Expertise. Ihr Büro wird immer noch
häufig von Journalisten belagert, sie spricht auf Seminaren im In- und
Ausland. Seit mehr als 30 Jahren kämpft sie für die Rettung des Ganges.
"Bereits
1986 initiierte der damalige Premierminister Rajiv Gandhi einen
sogenannten Aktionsplan zur Rettung des Ganges. Seine und alle
nachfolgenden Regierungen investierten gewaltige Geldsummen in die
Flussreinigung. Trotzdem müssen wir leider konstatieren, dass die
Verschmutzung weiter zunahm. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, aber
das Hauptproblem ist, dass wir uns zu sehr an entsprechenden Programmen
in Europa und den USA orientieren."
Zeremonielles Flussbad während des hinduistischen Festes Kumbha (Kumbh) Mela. (imago/GranAngular)
Die
wenigsten Städte Indiens verfügten über ein funktionierendes,
unterirdisches Kanalsystem. Selbst in der Hauptstadt könne nur die
Hälfte der Abwässer erfasst und in Kläranlagen behandelt werden. Darüber
hinaus nutzten die meisten Kläranlagen aufgrund von Missmanagement und
Energieknappheit nur einen Teil ihrer Kapazitäten. So könne es nicht
weitergehen, meint die prominente Umweltschützerin.
"Die neue
Regierung, die seit dem vergangenen Mai im Amt ist, hat die Reinigung
des Ganges zur Priorität erhoben. Wunderbar. Der neue Premierminister
Modi ist persönlich daran interessiert, auch das kann ich nur begrüßen.
Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht die alten Fehler wiederholt. Wir
müssen das Reinigungsprogramm gründlich überdenken und neu erfinden."
Bei
den nationalen Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 errang die
rechtsgerichtete Hindupartei BJP einen Erdrutschsieg. Ihr
Spitzenkandidat, der heutige Premierminister Narendra Modi versprach im
Wahlkampf, den heiligen Fluss der Hindus wiederzubeleben. Doch
Umweltschützer bemängeln, die bislang bekannt gewordenen Vorschläge
seien im technokratischen Denken verhaftet: neue Staudämme, noch mehr
Kläranlagen. In Politik und Bürokratie müsse ein neues Paradigma Einzug
halten, das die Flüsse als lebendige Ökosysteme begreife. Sunita Narain
macht konkrete Vorschläge:
"Vier grundlegende Reformschritte
sind notwendig: Erstens müssen wir sicherstellen, dass die Flüsse
genügend Wasser führen. Nummer zwei: Wir können nicht erwarten, in
kurzer Zeit überall moderne Abwassersysteme einzurichten. Daher sollten
wir versuchen, mit der bestehenden Infrastruktur zu arbeiten und das
Abwasser der offenen Kanäle zu reinigen. Allerdings muss das so
gereinigte Wasser auch sinnvoll eingesetzt, und nicht wieder mit
schmutzigem Wasser vermischt werden. Und schließlich müssen strikte
Kontrollen für Industriebetriebe eingeführt werden, damit diese nicht
länger bedenkenlos ihre Abwässer in den nächsten Fluss leiten."