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Deutsche Welle

Redaktion Politik, Weltspiegel

Brief aus Asien, 13.12.2004

 

Wir sind (alle) Ausländer

 

von Rainer Hörig, Pune/Indien

 

Seit 15 Jahren lebe ich als freier Korrespondent in Indien. Einmal im Jahr gönne ich mir eine Reise nach Deutschland. Ich freue mich, in die alte Welt zurück zu kehren, mit guten Freunden zu plaudern und wertvolle Erinnerungen aufzufrischen. Natürlich bin ich gespannt, wie sich "good old Germany" verändert hat. Rasch hole ich die letzten Entwicklungen auf dem Automarkt oder in der Computertechnik nach. Aus indischer Sicht ist Deutschland ein Land, in dem Milch und Honig fließen, wo jeder genug zu Essen hat und es keine Slumhütten gibt. Deutschland genießt hier den Ruf eines Technik-Wunderlandes, das die besten Autos und Maschinen produziert. Ich gestehe, dieses Idealbild hat auch meine Wahrnehmung beeinflusst und führt gelegentlich zur Idealisierung der alten Heimat.

 

Während meines letzten Aufenthaltes in Deutschland erfuhr ich von Massenentlassungen bei Opel, von der Krise bei Karstadt, von neuen Haushaltslöchern und Kürzungen der Sozialpläne. Die massive Häufung schlechter Nachrichten hat mich tief getroffen. Mein Deutschlandbild hat Kratzer bekommen.

 

Aus meiner neuen Heimat Indien hört man zur Zeit Erstaunliches: Ein über Jahre konstantes Wirtschaftswachstum von sechs bis acht Prozent, alle paar Monate ein neuer historischer Höchststand der Aktienkurse, massive Investitionen ausländischer Anleger in indische Unternehmen, leichter Rückgang der massenhaften Armut. Der Wirtschaftsaufschwung ist sichtbar, etwa im rasend schnellen Wachstum meiner neuen Heimatstadt Pune, wo derzeit Software-Parks und Callcentres wie Pilze aus dem Boden schießen und sich das Stadtbild innerhalb weniger Jahre verändert. Allmählich verfallen auch meine Gastgeber dem Konsum, und immer mehr können es sich leisten. Neue Autos, schicke Handys, Designer-Kleidung, das sind hier die aktuellen Statussymbole.

 

Die deutsche Depression, der indische Boom, beide sind Folgen der Globalisierung. Indische Techniker sind qualifiziert und preiswert, daher lagern viele westliche Firmen ihre Geschäftsprozesse nach Indien aus. Deutsche Arbeiter sehen sich gezwungen, auf hart erkämpfte Sozialleistungen zu verzichten, damit sie mit ihren Kollegen aus Ungarn oder China konkurrieren können. Dass die Deutschen zumindest in einigen Bereichen auf der Verliererseite stehen, liegt unter Umständen auch an ihrer fehlenden Flexibilität. Die Ritterburg-Mentalität etwa, die viele Deutsche in ihrem Verhältnis zu Ausländern einnehmen, erscheint mir im Zeitalter der Globalisierung antiquiert und kontraproduktiv.

 

In der Nähe von Bonn besuchte ich meinen alten Freund Jose, der aus dem südindischen Palmenland Kerala stammt. Er ist seit fast vierzig Jahren mit seiner Familie in Deutschland ansässig, war Abteilungsleiter in einer Bildungsstätte, nun pensioniert. Wir tauschten Erfahrungen und Gefühle über das Ausländer-Dasein in Deutschland und in Indien aus. Die Deutschen hätten mit der Andersartigkeit ein Problem, diagnostizierte Jose. Ausländer stießen immer wieder an Grenzen, nur wenige schafften es etwa in Führungspositionen aufzusteigen. Indien dagegen pflegte eine Jahrtausende alte multikulturelle Tradition. Da das indische Volk aus vielen verschiedenen Ethnien bestehe, sei Andersartigkeit ein Bestandteil des Lebens, Toleranz eine Gewohnheit.

 

Das kann ich nur bestätigen. Ich fühle mich in Indien mit offenen Armen aufgenommen. Übrigens: Die größte private Fluggesellschaft des Landes wird von einem Deutschen geführt. Eine gebürtige Italienerin, Sonia Gandhi lenkt die Regierungspartei. Jose und ich waren uns einig, die Deutschen sollten allmählich lernen, dass auch Ausländer Verantwortung tragen können.