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In der Höhle des Tigers

Die Höhlentempel der buddhistischen Mönche Indiens blieben tausend Jahre lang verborgen. Die magische Ausstrahlung blieb ihnen erhalten

VON RAINER HÖRIG

Langgestreckte Tafelberge thronen über der Steppenlandschaft, die sich östlich von Mumbai über die Hochebene des Dekhan erstreckt. Kleine, zersauste Dörfer säumen die Straßen. Vor zweihundert Jahren, als hier noch viel Wald stand, verirrte sich ein britischer Kolonialoffizier namens John Smith auf der Jagd in die Schlucht des Flusses Waghora. Er folgte den Spuren eines Tigers, aber er entdeckte eine Höhle. Als er sie betrat, muss er seinen Augen nicht getraut haben: Unter einem riesigen Gewölbe stand eine fast zehn Meter hohe buddhistische Stupa. Hinter massiven Säulen verbargen sich kunstvolle Gemälde, die fast die gesamte Wand bedeckten. Der mutige Soldat war auf eine der größten und ältesten Kunstschätze Indiens, ja ganz Asiens gestoßen.

Dichter Dschungel bedeckt das Flussbett am Oberlauf, wo die Waghora (Marathi: Tigerhöhle) in malerischen Kaskaden aus einem Felstor tritt. An diesem idyllischen Ort, weit ab von jeder großen Stadt, lebten vor 2.000 Jahren bis zu einhundert buddhistische Mönche. Mithilfe lokaler Arbeitskräfte stemmten sie im Laufe von neunhundert Jahren 30 Höhlen aus dem Basalt. Sie engagierten Künstler aus dem Norden und Süden des Subkontinents, um ihre Gebetshallen zu verzieren.

Stupas, Säulen, Statuen und Reliefs, selbst die Schlafkammern der Mönche - alles ist aus dem gewachsenen Fels geschlagen, alles aus demselben Stein gemeißelt. Doch nachdem der Buddhismus im 8. Jahrhundert n. Chr. seine königlichen Gönner verlor und fast gänzlich aus Indien verschwand, wurde das Höhlenkloster von Ajanta verlassen. Der Dschungel eroberte das Waghora-Tal zurück.

Wir ziehen die Schuhe aus und steigen über eine Schwelle in die Dunkelheit. Es ist warm und feucht in der Höhle. Stimmen hallen durch die stickige Luft. Wir schauen uns um: In der Apsis am Ende der Halle sitzt ein steinerner Buddha im Lotussitz, von unten dramatisch angestrahlt. Massive Säulen unterteilen den Raum in eine Mittelhalle und zwei Seitenschiffe. Decken und Wände sind tatsächlich mit detailreichen Gemälden bedeckt. Allerdings hat der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen: An vielen Stellen sind die Figuren nur schwer zu erkennen.

"Die Gemälde schildern Geschichten aus den früheren Leben des Buddha, die sogenannten Jatakas", erklärt der Touristenführer Sudhir. "Hier etwa sehen Sie Buddha, als König Mahajanak geboren. Er erhält den göttlichen Auftrag, Könighaus und Reichtümer aufzugeben und als Einsiedlermönch in den Wald zu ziehen. Diese Gemälde stellen ein authentisches Zeugnis des Lebens in Indien im 5. Jahrhundert dar. Sie zeigen, wie die Menschen damals aussahen, welche Kleider sie trugen, in was für Häusern sie wohnten. Die Bildgeschichten dienten dazu, den Gläubigen das Wirken Buddhas nahe zu bringen. Sie waren also Glaubensbekenntnis und Lehrmaterial zugleich."

Ich fühle mich in eine andere Zeit, eine andere Welt versetzt. Die tropische Vielfalt dieser Bilder, ihre anmutigen Figuren, die perfekte Harmonie der Naturfarben ziehen mich in ihren Bann. Ich glaube, den Klang dutzender Hämmer zu hören, die auf eiserne Meißel schlagen, um das Basaltgestein Stück für Stück abzuhebeln, bis nur noch Säulen und Stupas übrig bleiben. Es erscheinen Mönche in gelben Roben, die die Arbeiten beaufsichtigen und sich mit Bildhauern und Architekten beraten. Im Eingang stehen Helfer und werfen mit Hilfe blanker Metallplatten Sonnenlicht in die Höhlen, damit die Künstler arbeiten können.

Trotz der vielen Besucher hat dieser Ort etwas Geheimnisvolles. Aus dem Dunkel tauchen wunderschöne Frauen mit vollen Brüsten auf, begleitet von dunkelhäutigen Gigolos mit wallendem Haar. Es wimmelt von Elefanten, Affen und Papageien. Gesichter und Gesten der Figuren erscheinen lebendig und realistisch. Sie tragen prächtige Gewänder und kostbare Juwelen. Es muss eine sinnenfrohe Zeit gewesen sein.

"Die ersten Höhlen entstanden im 2. Jahrhundert vor Christus", sagt Dr. Ramachandra Morwanchikar, ehemals Professor für Geschichte an der Universität im nahen Aurangabad. "Siebenhundert Jahre später, zur Zeit der Gupta-Dynastie, erlebte Ajanta eine zweite Bauphase, der wir die prächtigsten Wandgemälde zu verdanken haben. Fürsten und Königshäuser, aber auch reiche Kaufleute finanzierten die Bauarbeiten."

Infolge des Zusammenbruchs des lukrativen Handels mit dem Römischen Reich und der Hinwendung der meisten Herrscherhäuser zum wiedererstarkten Hinduismus hätte das Kloster von Ajanta seine Mäzene verloren, erklärt Dr. Morwanchikar. Am Ende des 8. Jahrhunderts verließen die letzten Mönche ihre Höhlen. Ajanta fiel tausend Jahre lang in Vergessenheit, bis 1819 ein Kolonialoffizier auf Tigerjagd ging.

Heute besitzt der Erhalt dieser einzigartigen Kunstwerke, die gemeinsam mit dem Buddhismus weite Teile Asiens beeinflussten, oberste Priorität. In der Höhle Nummer 10, jener, die John Smith berühmt machte, sind die Gemälde kaum noch erkennbar, von Rissen und Schmutz verworfen, durch frühe Graffiti entstellt. "Dies sind die ältesten Gemälde von Ajanta", betont Manager Singh, Experte der Archaeological Survey of India, der zentralen Behörde für die Verwaltung der Monumente im Land.

"Der Boden dieser Höhle war etwa einen Meter hoch mit Schutt und Geröll bedeckt. Dadurch haben fast alle Säulen Schäden an der Basis erlitten. Frühe Besucher ritzten ihre Namen in die Wandgemälde. Am schlimmsten aber sind die Bemühungen früherer Restaurateure, die Gemälde mit Schelllack zu konservieren. Der Lack verfärbt die Bilder wie ein gelber Film, und er verhindert, dass sie Feuchtigkeit abgeben können. Daher bekommen sie Risse."

Manager Singh und seine Kollegen von der Archaeological Survey haben in einer der Höhlen ein Camp aufgeschlagen. Hier lagern sie Chemikalien und Gesteinsproben, Computer und Fotoapparate. Seit Jahren dokumentieren sie die Statuen und Gemälde. Sie schließen Risse im Fels, stopfen Wassereinflüsse, entfernen Lackschichten - eine Sisyphusarbeit. Technische und finanzielle Unterstützung erhalten sie von der japanischen Regierung und der Unesco, die Ajanta 1983 als erstes indisches Monument zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärte.

Durch ihre Arbeit schüren die Archäologen jedoch eine neue Gefahr. Je schöner die Gemälde glänzen, desto mehr Bewunderer locken sie an. Rund 100.000 Menschen betreten jährlich die Höhlen von Ajanta, und es werden immer mehr. Manager Singh: "Der Ansturm ist manchmal kaum zu regulieren. Während der Saison im Winter stehen Hunderte von Menschen vor einer Höhle und warten auf Einlass. Wir müssen die Besucher besser auf verschiedene Höhlen verteilen und den Ansturm irgendwie managen, sonst können wir die Gemälde vergessen."

taz Nr. 8222 vom 10.3.2007, Seite 15, 228 TAZ-Bericht RAINER HÖRIG

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