Indische Umweltschützer ließen mich wissen, ein großer
deutscher Elektrokonzern plane, einen Staudamm über den
Narmada-Fluss in Zentralindien zu bauen. Na prima, werden die
meisten Zuhörer nun denken, da helfen wir Deutschen den Indern
auf saubere Art mehr Strom zu produzieren und sichern
gleichzeitig Arbeitsplätze in Deutschland. Mich hat diese
Nachricht dagegen überrascht und betroffen gemacht. Gerne
verrate ich Ihnen warum.
Der Narmada-Fluss ist einer der letzten halbwegs intakten
Binnengewässer in Indien. Er wird von Hindus als Göttin
verehrt, und seit Jahrhunderten pilgern die Gläubigen entlang
seiner mit tausenden Tempeln verzierter Ufer. Der
eintausendunddreihundert Kilometer lange Strom soll nach dem
Willen von Regierungsplanern mithilfe von dreißig
Großstaudämmen und hunderten kleinerer Wehre gezähmt, sein
Wasser in Dürregebiete umgeleitet und zur Stromgewinnung
genutzt werden. Doch seit fünfzehn Jahren protestieren die
Bewohner des stellenweise malerischen Flusstals gegen die
Überflutung ihrer Dörfer und Äcker. Die Erfahrungen mit
bereits vollendeten Großstaudamm-Projekten lehrt sie, dass die
Mehrheit der von Haus und Hof Vertriebenen im Elend endet.
Indien hat seit der Unabhängigkeit im Jahre 1947 mehrere
tausend große Staudammprojekte initiiert. Dadurch wurde nicht
nur Strom und Wasser für die Landwirtschaft gewonnen, sondern
auch über 15 Millionen Menschen entwurzelt. Da es hier keine
verbindlichen Regelungen für die Entschädigung und
Rehabilitation derjenigen Menschen gibt, die ihre
Lebensgrundlagen für den Fortschritt des Landes opfern müssen,
enden die meisten als Tagelöhner auf Baustellen oder als
Bettler auf den Straßen einer Großstadt.
In der Hoffnung, sich ein ähnliches Schicksal ersparen zu
können, schließen sich Bäuerinnen und Bauern am Narmada-Fluss
seit den achtziger Jahren zu Protesten zusammen. Frauen nehmen
eine prominente Rolle in der von der Sozialwissenschaftlerin
Medha Patkar geführten "Bewegung zur Rettung der Narmada" ein.
Demonstranten besetzen Baustellen, blockieren Straßen,
veranstalten Sitzstreiks vor Regierungsgebäuden, schicken
Klagen an die Gerichte. Ihr Zorn findet Widerhall in Bombay
und New Delhi, in der ganzen Welt. Eine internationale
Kampagne von Umweltschützern und Menschenrechtlern zwang 1993
die Weltbank, sich aus der Finanzierung der Staudämme zurück
zu ziehen.
Könnten all diese Ereignisse den leitenden Herren des
deutschen Konzern entgangen sein? Können sie nicht, denn
dieselbe Firma fiel vor wenigen Jahren schon einmal am
Narmada-Fluss auf die Nase. Nahe der historischen Kleinstadt
Maheshwar sollte von deutschen Banken finanziert, mit
deutschen Steuergeldern versichert, ein Staudamm gegen den
Willen der ansässigen Bevölkerung gebaut werden. Proteste
deutscher Umweltschützer halfen nichts, die Bundesregierung
gewährte tatsächlich eine Exportbürgschaft für das Projekt.
Vor Ort herrscht heute Friedhofstille. Mehrmals besetzten
Dorfbewohner die Baustelle, blockierten Zufahrtsstraßen und
Amtsgebäude, um ihren Protest gegen die drohende Vertreibung
kund zu tun. Der indische Partner der Deutschen ist in
zahlreiche Korruptionsaffären verstrickt und in finanzielle
Schwierigkeiten geraten. Nun versucht also dieselbe deutsche
Firma knapp 50 km aufwärts am selben Fluss, noch einmal ihr
Glück. Schon ist das erste Dorf abgeräumt worden, die
Bauarbeiten sollen in Kürze beginnen. Wissen das die Manager
in München?
Hier, meine verehrten Zuhörer, beginnt für mich das Wunder.
Über solch eine unverfrorene Geschäftstüchtigkeit, über soviel
kaltschnäuzige Ignoranz kann ich nur staunen. Glauben die
Herren in deutschen Konzernzentralen ernsthaft, sie könnten
einem Land helfen, indem sie Tausende seiner Bewohner ins
Elend stürzen? Sollen deutsche Arbeitsplätze denn auf dem
Rücken indischer Kleinbauern gesichert werden? Stellen wir uns
so die Globalisierung vor? Ich bin sicher, auch in Deutschland
wird es bald wieder Proteste gegen das Staudamm-Projekt am
Narmada-Fluss geben.
Rainer Hörig, Pune, Indien